Das Armband
Das Armband

Das Armband

Lesedauer 6 Minuten

Links über Rechts. Jetzt durch die Schlaufe. Festziehen. Dann wiederholen. Stück für Stück. Wieder ein Knoten. Diesmal Rechts über Links. Wieder durch die Schlaufe. Festziehen. Langsam lässt sich ein Muster erkennen. Das Armband beginnt Form anzunehmen. Noch ein Knoten. Und dann noch einer. Jetzt fehlt nurmehr ein Stück. Vorsichtig legt Felix sich das Armband um den Arm. Es passt schon fast. Ihm ist langweilig, denn er hat nichts mehr zu tun. Seine Maturaaufgaben sind schon seit einer halben Stunde gelöst, aber gehen ist noch nicht erlaubt, es ist noch zu früh. Also knüpft er weiter an seinem Armband. Ob er es noch in der Zeit fertig schafft. Naja, viel fehlt ihm ja nicht mehr. Noch einmal anlegen. Tatsächlich. Es ist fertig. Da läutet auch schon die Glocke, die Stunde ist um, er kann endlich nach Hause gehen. Ruhig legt er sich das Armband an. Jetzt ist ja schließlich keine Hektik mehr angesagt. Die letzte Prüfung ist geschrieben und ab jetzt geht das Leben los. Die Schule ist vorbei. Genauso abgeschlossen, wie sein selbstgemachtes Armband, denkt er sich, als er die Papiere in die Hände der Professorin legt. Ein paar Tage später trägt er das Armband auch bei der Feier. Es weiß niemand außer ihm, aber für ihn hat es einen ganz besonderen Wert. Manchmal, wenn er schon fast nicht mehr glauben kann, dass es wirklich geschafft ist, greift er sich an sein Handgelenk und dreht das Band. Das gibt ihm Sicherheit. Am Abend legt er es allerdings immer ab. Er möchte nicht, dass es kaputtgeht.

Doch eines Tages ist es nicht mehr da. Die Katze hat es im Maul und spaziert damit quer über die Straße. Felix weiß davon nichts. Er wird sein Armband auch nicht wieder sehen. Nach drei Laternenpfählen und zwei Kanaldeckeln ist das Armband dann auch gar nicht mehr so interessant. Die Katze lässt es fallen, kickt es noch zweimal mit ihren Pfoten hin und her und jagt dann einem vorbeihuschenden Mäuschen nach. Da liegt es also. Auf der Straße, im Staub, als plötzlich ein Knopf neben das Armband rollt. Er rollt vorbei und landet im nächsten Abfluss. Thomas bückt sich nach seinem verlorenen Hosenverschluss, doch muss recht bald einsehen, dass dieser wohl nicht mehr auffindbar ist. Da streift sein Blick über das Pflaster, in der Hoffnung vielleicht einen Ersatz für seine missliche, hosenverlierende Lage zu finden, und bleibt bei dem Armband stehen. Es ist lang und scheint stabil genug zu sein, um seine Hose zu halten. Vorsichtig hebt er es auf und fädelt das erste Ende in sein Knopfloch. Das andere verknotet er mit seiner Hose und zieht es zum schluss fest. Als er sein Sakko darüberlegt sieht man es von außen garnicht mehr. Erleichtert atmet er auf. Die Türe quietscht, als er das Büro betritt. Ein ihm noch fremder Mann bietet ihm einen Stuhl an und das Bewerbungsgespräch beginnt. Er wird nach seinen Zielen, nach seinen Wünschen und nach seinen Stärken und Schwächen gefragt. Alles kann er beantworten. Sogar, dass er manchmal ein ziemlicher Glückspilz ist, erwähnt er kurz. Auf die Frage warum er das denn glaube zeigt Thomas dem nun schon weniger fremden Mann seinen Hosenverschluss. Sie lachen. Thomas bekommt den Job. Und das Armband einen ganz besonderen Platz in seiner Geschichtenkiste.

Gleich danach ist er bei seinen Eltern zum Essen eingeladen. Ganz egal wie es ausgegangen wäre, es wäre entweder ein Tröstungs- oder Feier-Essen geworden. So wird eben gefeiert. Doch seiner kleinen Schwester Lia scheint es heute nicht so gutzugehen. Sie ist zwar auch schon erwachsen, aber manchmal überwältigen sie einfach die Aufgaben ihres Alltags. Das weiß Thomas, doch das so direkt anzusprechen ist gar nicht so leicht. Immer wieder wirft er ihr Blicke zu. Früher, da war das irgendwie einfacher. Als sie noch gemeinsam gewohnt haben, hat er sie in solchen Momenten einfach fest in den Arm genommen und so lange festgehalten, bis er zumindest ein kleines Lachen auf ihren Lippen sehen konnte. Heute ist das irgendwie schwieriger, denkt er sich. Als sie aufstehen, um nach Hause zu gehen, nimmt Thomas Lia beiseite und streckt ihr das Armband entgegen. “Hier, das ist für dich”, sagt er. “Ich habe gesehen, dass es dir nicht so gut geht und ich möchte nicht, dass du dich alleine fühlst. Ich wünsche mir, dass du, jedes Mal, wenn du dieses Armband ansiehst, an mich denkst; dass du daran denkst, dass du immer einen Bruder haben wirst, der auf dich aufpasst und zu dem du immer kommen kannst. Egal was ist”. Lia nimmt das Armband vorsichtig zwischen ihre Finger “Danke”, sagt sie und nimmt ihren Bruder in den Arm. “Das bedeutet mir sehr viel, ich hoffe, das weißt du”.

Zuerst weiß Lia gar nicht, was passiert ist. Charlotte schreit nur und sie versteht gar nichts. Besorgt nimmt sie ihre Tochter in auf den Arm. “Was ist denn passiert?”, fragt sie. Mit verweintem Gesicht zeigt Charlotte auf ihren Zeh. Er blutet. Sie muss ihn sich wohl beim Spielen im Gras aufgeschnitten haben. Vorsichtig versorgt Lia die Wunde ihrer Tochter. Trotz eines großen Pflasters ist aber noch nicht ganz alles in Ordnung. Charlotte humpelt beim Aufsteigen, so weh tut ihr Zeh. “Oh je”, sagt Lia. “Tut es immernoch so weh?”. Vorsichtig nickt Charlotte. “Da hilft wohl nur eines”, meint die kreative Mutter und bindet sich das Armband vom Handgelenk. “Ein Zauber”. Vorsichtig legt sie es ihrer Tochter an. “Weißt du, was dieses Armband kann? Es hat einen Zauber in sich. Jedem, der es trägt, beschert es die schnellstmögliche Heilung seiner Wunden”, sagt sie, als sie es ihrer Tochter um das Handgelenk bindet. Sie muss es doppelt wickeln, denn sonst würde es wohl von ihrem kleinen Händchen rutschen. Etwas ungläubig sieht Charlotte ihre Mutter an. “Wirklich?”, fragt sie. “Ja, wirklich”, versichert ihr Lia. Das Lächeln ihrer Tochter bestätigt sie. Manchmal hilft so ein kleiner Zauber doch wahre Wunder.

*Ratsch*, macht der Teddy von Charlotte, als er an einem herausstehenden Nagel des Schuppens hängenbleibt. “Oh nein”, denkt sie sich. Der neue Teddy, den mir Mama doch erst vor ein paar Tagen gekauft hat. So ein Mist. Was soll sie denn jetzt bloß machen? Da hat Charlotte eine Idee. Sie hat doch noch das Zauberarmband. Wo war das noch gleich? Ach, in der kleinen Kommode neben ihrem Bett. Schnell wird es gesucht und dem Teddy angelegt. Jetzt muss nurmehr gewartet werden. Sicher vor den Augen der Mama wird der Teddy verstaut, in einem kleinen Fach in ihrem Schrank. Vielleicht sogar ein bisschen zu gut.

Die Jahre vergehen und Charlotte wird älter. Den Teddy schon längst vergessen, zieht sie aus. Auch an das Armband hat sie schon längst keine Erinnerung mehr. Der Kasten wird auf Willhaben verkauft und das kleine Fach mit dem Teddy und dem Armband bleibt ungeöffnet. Julian, der stolze Käufer, findet das Relikt erst beim Putzen in seiner Wohnung. So eine Überraschung auch, damit hat er nicht gerechnet. Der Teddy riecht nach Dachboden und ist leider kaputt, den kann er nicht behalten. Das Armband gefällt ihm aber. Es hat ein schönes Muster, findet er und dieser ganze alte Look passt sowieso gut zu seinem Style. Er trägt es gerne, obwohl es schon ziemlich abgenutzt ist.

Vielleicht war ja das Armband das entscheidende Detail, mit dem sich Simone in Julian verliebt. Sie müsste auf jeden Fall lügen, wenn sie sagen würde, dass es ihr gar nicht aufgefallen ist. Tatsächlich bringt das Armband einen fantastischen Gesprächsstarter. Die Beiden reden den ganzen Abend. Es ist wunderschön und Simone möchte am liebsten für immer in diesem einen Moment des Abends leben, als Julian sie dann endlich küsst. Er nimmt sie um die Hüfte, die Sterne spiegeln sich im anliegenden Teich und er senkt seine Lippen auf ihre. Es ist einfach perfekt. Genau so stellt sich Simone ihre Zukunft vor. Mit ihm und niemand anderem. Doch irgendwann muss auch dieser Abend enden. Im Bus nach Hause findet Simone das Armband in ihrer Tasche. Hat Julian es ihr absichtlich zugesteckt? Oder ist es einfach in ihre Tasche gerutscht, als sie sich zum Schwimmen im Teich ausgezogen haben? Eigentlich ist das aber auch nicht so wichtig, denkt sie sich. Jetzt gehört es ihr. Sie wird darauf aufpassen, bis er es wiederhaben möchte. Etwas von ihm zu haben macht sie so glücklich, dass es diese Nacht sogar unter dem Kopfpolster liegen darf.

Und dann kommt die Nachricht. Julian möchte sich nicht mehr treffen. Er sagt, er hat eine Freundin. Simone ist empört. Wie kann er nur? Zuerst solche Hoffnungen machen und dann das. So ein Schwein. Ihr Blick fällt auf das Armband in ihrer Hand. Das möchte sie jetzt auch nicht mehr haben. “So ein Mistkerl”, sagt sie, während das Armband in ihrem Kamin landet. Gierig schlingen sich die Flammen um den Stoff und klettern die Fasern entlang. Simone sieht zu, während es sich langsam zu Asche verwandelt, die von der Luft getragen durch den Schornstein nach oben getragen wird.

Und da fliegt es. Das Armband. Das Armband, das Errungenschaft, Spielzeug, Glück, Sicherheit, magischer Gegenstand, Fundstück und schmerzliche Erinnerung war. Es verteilt sich in klitzekleine Teilchen Asche und Staub und senkt sich langsam wieder auf die Straßen der Stadt, wo es hunderte von Schuhen in alle Himmelsrichtungen tragen.

Vielleicht ist einer von den Schuhträgern und Schuhträgerinnen ja auch einer der früheren Besitzer und Besitzerinnen des Armbandes. Jeder mit seiner eigenen Geschichte und Erinnerung an das Armband. Das eine Armband, das so vieles war.

Und du? Hast du vielleicht auch so ein Armband?

2 Kommentare

  1. Franz

    Lieber Felix, eine wunderbare, schöne Geschichte, über Ereignisse, Erlebnisse, und die kleinen Dinge des Lebens, denen ein Zauber innewohnt, den wir oft erst erkennen können, wenn wir uns des Lebens bewusst sind……
    Danke

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