Der unendliche Tanz
Der unendliche Tanz

Der unendliche Tanz

Lesedauer 6 Minuten

Vor vielen vielen Jahren, tatsächlich vor so vielen Jahren, dass es noch gar keine Jahre gab.. Auch keine Sekunden und Stunden. Nein, vor so langer Zeit, als die Zeit noch gar nicht die unzählbar vielen Teilchen des Universums durchstreifte, da war alles perfekt. Tatsächlich war das einzige, was es gab die Perfektion.
Alles war geordnet und jedes Teilchen hatte seinen Platz. Nichts, aber auch wirklich garnichts tanzte aus der Reihe. Alles war in seiner perfektesten Form, vollkommen und ganz.
Keine Zeit verging in der Perfektion, denn sie kannte keine Zeit. Sie war schon immer so gewesen und würde auch immer so sein. Tatsächlich wusste die Perfektion gar nicht, was dieses „für immer“ sein sollte, denn sie kannte ja keine Zeit. Sie war einfach nur vollkommen.
Weil wir Menschen uns diesen Zustand allerdings nicht vorstellen können, möchte ich in dieser Erzählung doch auf uns bekannte Größen zurückgreifen. Es ist okay, wenn in deinem Kopf Tage und Sekunden vergehen und du dir eine materielle Welt vorstellst. Vielleicht siehst du in deiner Fantasie gerade etwas geordnetes oder rundes. Vielleicht eine perfekt nach Farben sortierte Buntstiftbox, oder ein wunderschön ausgemaltes Mandala. Wobei diese Dinge in Wirklichkeit ja eigentlich nie ganz perfekt sind. Aber mach dir deswegen keine Sorgen. So sind wir eben. Aber dazu komme ich noch.
Als die Perfektion also unbewegt und starr durch das unendliche Nichts wandelte und nichts anderes kannte, als sich ihrer vollkommenen Makellosigkeit zur Gänze hinzugeben, erblickte sie zu ihrer Verwunderung ein komisches Schimmern am Horizont. Es war noch nie vorher dagewesen, denn alle Existenz war ja perfekt und vollkommen in ihr selbst. Falls man das überhaupt schon Existenz nennen konnte. Aber trotzdem gab es dieses wundersame schimmern. Wie ein herrliches Wabern stand es am Horizont und bewegte sich ganz langsam und allmählich immer weiter auf die Perfektion zu.
Vorsichtig betrachtete die Perfektion das faszinierende Gebilde, welches sich immerzu zu verändern schien. Es wechselte seine Farben und Formen. Etwas, das die Perfektion in ihrem ultimativen und absoluten Zustand noch nie gesehen hatte, denn in ihr hatte ja alles nur eine einzige Form, die vollkommene.
Eine unglaubliche Anziehung ging von dem mysteriösen Schimmern auf die Perfektion aus. Als sie näher kam, begann das Schimmern sich plötzlich auszubreiten und die Perfektion langsam zu umhüllen. Doch immer wenn die Perfektion versuchte es zu berühren, wich es zurück. Es war ihr unmöglich, diese magische Erscheinung zu berühren.
„Wer bist du?“, fragte die Perfektion in die unglaubliche Farbenpracht des stetigen Wirbels, der sie umgab. „Du bist wunderschön“, sagte sie.
Kurz war es still. Dann erklang wie durch einen Zauber eine sanfte Stimme. Du kannst sie dir vorstellen wie den Wind, der durch die Bäume streift oder das Wasser, dass die Steine in einem Fluss streichelt. „Ich bin die Zeit“, sagte die Stimme. „Ich bin die Bewegung, die Kraft, die alles zu verändern vermag. Ich bin die Zukunft und die Vergangenheit, das Jetzt und das Niemals“. Die Worte der Zeit hallten noch lange in den Ohren der Perfektion nach. Noch nie hatte sie so etwas Schönes gehört. „Das jetzt und das niemals.. Was ist das?“, fragte sie die Zeit. Die Zeit schwieg. „Ich kann es dir nicht erklären“, sagte sie nach einer langen Zeit. „Du bist perfekt. Du hast kein Jetzt und kein Niemals“. Wieder schwieg die Zeit. Die Perfektion dachte nach. Sie war wie verzaubert. Sie betrachtete jedes ihrer makellos geordneten Teilchen, die schon immer so gewesen waren. Sie kannte wirklich kein Jetzt und auch kein Niemals. Alles war für sie schon immer so gewesen, dachte sie sich wobei sie in Wirklichkeit gar nicht wusste, was “immer” überhaupt bedeutete.
„Und woraus bestehst du?“, fragte die Perfektion. „Ich kann dich nicht wirklich erkennen. Du veränderst dich ja ständig“. Kurz war es wieder still.
„Ich bestehe aus dem Moment“, sagte die Zeit. „Er ist meine Kraft und meine unerschöpfliche Stärke. Ich habe keinen Körper und man kann mich nicht angreifen. Man kann mich bloß spüren wenn ich schon vergangen bin. Wenn man die Veränderung, die durch mich geschehen ist, beobachtet, dann kann man mich wahrnehmen“. Die Perfektion war verzaubert. Sie hatte noch nie etwas so Fantastisches, ja schier unglaubliches gehört. „Veränderung..“, grübelte sie. Es war ein Wort, das sie noch nie gehört hatte. In ihr wuchs ein unglaublicher Wunsch, die Zeit zu spüren, ja fast schon ein Verlangen. Die Perfektion hatte sich verliebt in die Zeit.
„Ich möchte dich gerne berühren, Zeit“, sagte die Perfektion. „Ich möchte wissen, wie du dich anfühlst. Ich möchte mit dir tanzen“. Wenn man ganz genau hingesehen hätte, hätte man das Schimmern leicht erröten sehen. Aber nur für einen ganz kurzen Moment. Dann antwortete es. „Das geht leider nicht. Denn wenn du mich berührst wird nichts mehr so sein wie vorher. Alle deine Teilchen werden sich verändern und du wirst nicht mehr perfekt sein. Nichts in dir wird stillhalten und du wirst in ewiges Chaos zerbersten. Ich kann dich nicht berühren“. Die Perfektion überlegte kurz. Sie konnte sich nicht vorstellen, was die Zeit meinte. Nicht mehr perfekt zu sein machte ihr zwar Angst, aber keine Angst hätte jemals groß genug sein können, um ihr Verlangen nach der Zeit zu stillen. Ihre Neugierde nach dieser „Veränderung“ war einfach zu groß.
„Bitte, liebe Zeit, lass mich dich berühren. Mein ganzes Leben kannte ich nur mich selbst. Meine makellos sortierten Teilchen und meine perfekte Ordnung. Mein immer gleicher Zustand des Idealen und Optimalen. Ich bin zwar perfekt, aber starr. Man kann mir nichts hinzufügen oder ändern, ohne mich kaputt zu machen. Ich bin es leid, immerzu perfekt zu sein. Bitte, liebe Zeit. Lass mich dich berühren.“
Nachdem die Perfektion zu Ende gesprochen hatte, begann die Zeit sich ihr langsam zu nähern. „Bist du dir ganz sicher?“, fragte sie. „Es wird nichts jemals wieder so sein wie jetzt. Du wirst nicht mehr die Perfektion sein“.
„Ich bin mir ganz sicher“, sagte die Perfektion als die Zeit begann sie einzuhüllen.
Als die Zeit die Perfektion berührte, war für einen kurzen Moment alles still. Die Perfektion spürte, wie die Zeit sie durchströmte und erfüllte. Noch nie hatten die Teilchen vorher so etwas erlebt, sie begannen sich zu rühren. Zum Ersten mal überhaupt begannen sich ihre Teilchen zu bewegen. Immer mehr Energie durchströmte die Perfektion und sie spürte, wie sie ihren Zustand nicht mehr halten konnte. Kurz war sie sich nicht sicher, ob sie das auch wirklich wollte, doch dann hüpfte eines ihrer Teilchen zur Seite und sie zerbarst in einer Explosion so hell wie eine Million Sonnen. Es zerriss sie förmlich und alle ihre Teilchen flogen in zufällige Richtungen auseinander. Es entstand Chaos. Bewegt durch die Zeit stießen die Teilchen aneinander und verbanden sich, andere teilten sich und formten sich dann wieder zu neuen Gebilden. Des war ein wildes Durcheinander, in das sich die Perfektion auflöste. Dort, wo mehrere Teilchen aufeinandertrafen, bildeten sich klumpen, die sich später zu Sonnen und Planeten formten. Wenn sich bestimmte Teilchen verbanden, formten sie mit der Kraft der Zeit Berge und Täler, Flüsse und Meere und als die Zeit noch weiter auf sie einwirkte, bildeten sie sich zu Lebewesen, die sich durch die unglaublichen Landschaften bewegten. Ja, sogar wir Menschen entstanden durch die unaufhaltsame Bewegung der Teilchen, angetrieben durch den Fluss der Zeit.
Die Zeit hatte sich mit jedem Teilchen untrennbar verbunden. Sie durchströmte sie alle und trieb sie an. Kein Teilchen konnte mehr stehen bleiben oder sich der unendlichen Kraft der Zeit entziehen. Alles veränderte sich ab nun stetig und machte auch keine Anstalten, jemals wieder damit aufzuhören. Sie durchströmte alles, aber auch wirklich alles.
Mit der Berührung der Zeit begannen alle Teilchen in einen unendlichen Tanz einzusteigen, für den wir viele Namen haben. Manche nennen ihn Gott oder Göttin, manche sagen Energie zu ihm und wiederum andere bezeichnen diesen Tanz einfach als das Universum selbst.
Viel war von der Perfektion nun nicht mehr übrig geblieben. Jedes ihrer Teilchen hatte sich gelöst und schwirrte von nun an ohne Ziel durch die Gegend. Sie sie war nun vielmehr ein riesiges Drunter und Drüber.
Von nun an gab es keine Perfektion mehr, denn die Zeit hatte sie verwandelt. Sie wurde zu einem unendlichen Chaos. Ein Chaos, in dem auch wir wohnen und dank der Zeit unsere Leben leben.
Sie treibt uns an, bewegt jeden Fluss um seine Steine und jeden Wind um seine Blätter. Und auch uns treibt sie an. Lässt uns durch unsere Leben gleiten in dem größten nur denkbaren Chaos, welches einst die Perfektion war.
Doch die Teilchen haben die Perfektion nicht vergessen. Wenn du ganz genau hinsiehst, dann siehst du immer noch, wie sie an der einen oder anderen Stelle versuchen wieder in die Perfektion zu entfliehen. Wie die Äste eines Baumes so wunderbar chaotisch und doch geordnet wachsend oder die Oberfläche des Wassers mit ihren immer gleichen, aber doch unterschiedlichen Wellen wieder in ihren perfekten Zustand zurückwollen, den sie doch einst hatten. Doch so viel sie es auch versuchen, es gelingt ihnen nicht. Denn die Zeit durchströmt sie mit all ihrer unendlichen Kraft. Und sollte es doch einmal ein Teilchen für einen Moment schaffen, für einen Augenblick in die Perfektion zurückzukehren, so sieht das im nächsten Moment schon wieder ganz anders aus.
Und so befinden sich nun alle Teilchen in einem ewigen Tanz mit der Zeit. In dem unendlichen Tanz des Imperfekten Universums.
Aber vielleicht. Nur ganz vielleicht liegt genau darin seine Schönheit.

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